„Wenn Corona vorbei ist, kommen auch die Fahrgäste zurück“
Interview mit Verkehrspsychologe Dr. Jens Schade
Wie hat sich Mobilität in der Pandemie verändert und welche Auswirkungen hat sie auf den öffentlichen Nahverkehr? Über diese und weitere Fragen haben wir mit dem Verkehrspsychologen Dr. Jens Schade gesprochen. Der Wissenschaftler von der Technischen Universität Dresden befasst sich unter anderem mit Themen wie Verkehrssicherheit und Mobilitätsverhalten.
In einer von der Kampagne #BesserWeiter initiierten, repräsentativen Internetumfrage geht hervor, dass Menschen aktuell bevorzugt mit dem Auto oder Roller unterwegs sind. 67,4 Prozent der Befragten erklärten im Zeitraum vom 22.06.2021 bis zum 22.07.2021, in erster Linie auf den motorisierten Individualverkehr zu setzen. Lediglich 10,9 Prozent der Befragten gaben Busse und Bahnen als bevorzugtes Verkehrsmittel an. Über Mobilität in Zeiten von Corona haben wir mit Verkehrswissenschaftler Dr. Jens Schade gesprochen.
Herr Schade, durch die Coronakrise sind die Fahrgastzahlen im öffentlichen Verkehr eingebrochen. Aktuell bevorzugtes Verkehrsmittel ist das Auto. Viele Menschen bleiben Bussen und Bahnen aus Sorge vor einer Covid19-Infektion fern. Dabei zeigen zahlreiche Studien, dass das Infektionsrisiko im ÖPNV nicht erhöht ist. Das liegt unter anderem an Maßnahmen wie der Maskenpflicht und Lüftung. Die Faktenlage auf der einen Seite, das Bauchgefühl auf der anderen Seite – wie lässt sich diese Diskrepanz erklären?
Es ist ja schon lange bekannt, dass es eine Diskrepanz zwischen dem objektiven Risiko und dem subjektiv erlebten Risiko gibt. Also, dass wir das, was tatsächlich riskant ist, als gar nicht riskant erleben. Zum Beispiel werden die Risiken des Rauchens oder des Autofahrens unterschätzt. Bestimmte andere Bereiche hingegen werden sehr stark überschätzt. Und es ist ein altbekannter Befund, dass wir aufgrund dessen häufig falsche Entscheidungen treffen.
In Zusammenhang mit Corona gilt das natürlich genauso. Nach dem Sommer 2020, in dem die Leute wieder entspannter waren, sind die Ängste im Herbst wieder stark angestiegen. Und die Menschen haben deutlich mehr Angst, sich mit Corona anzustecken, als es die tatsächlich Ansteckungswahrscheinlichkeit hergibt. Und das führt eben zu Vermeidungshandlungen – und die betreffen leider auch den öffentlichen Verkehr.
Spielen neben der Sorge vor einer Infektion möglicherweise noch andere Gründe dabei eine Rolle?
In erster Linie sehe ich das im direkten Zusammenhang mit der Coronakrise. Neben inneren Beweggründen gibt es auch äußere Einflüsse, warum die Fahrgastzahlen zurückgegangen sind. Das Mobilitätsverhalten hat sich in der Pandemie verändert. Viele Fahrten fallen weg – durch den Lockdown etwa und damit verbunden entfallende Freizeitaktivitäten wie Schwimm- und Fußballvereine oder Yogakurse. All das, was die Menschen nebenbei gemacht haben, ist eingebrochen. Es fehlen viele äußere Zwecke – auch durch Homeoffice und Meetings, die mittlerweile digital stattfinden. Aber wenn es diese Zwecke wieder gibt, dann wird auch das Fahrgastaufkommen wieder ansteigen.
Was können Verkehrsunternehmen machen, um das Vertrauen der Fahrgäste zurückzugewinnen und Menschen wieder in Busse und Bahnen zu holen?
Das ist tatsächlich eine große Frage. Denn Studien zeigen, dass der öffentliche Verkehr kein Pandemietreiber ist. Auch zuletzt in einer französischen Untersuchung gingen Busse und Bahnen nicht als besondere Ansteckungsorte hervor.
Um Fahrgäste zu erreichen, halte ich die Digitalisierung für gut geeignet. Diese hat mit der Coronapandemie einen enormen Schub erfahren und vereinfacht die Nutzung von Bus und Bahn.
Verkehrspsychologe Dr. Jens Schade
Unsere Internetumfrage zeigt: Auch die Bevölkerungsdichte nimmt Einfluss auf die Verkehrsmittelwahl. Im ländlichen Raum setzen mehr Menschen auf das Auto als in städtischen Gebieten. Das war bereits vor der Coronapandemie der Fall. Wie kann man Mobilität auf dem Land attraktiver machen?
Auf dem Land ist der öffentliche Nahverkehr in erster Linie als Schülerverkehr vorhanden. Das Auto gilt dort als das flexibelste Verkehrsmittel. Aber was, wenn man älter wird? Wie kann man in ländlichen Gebieten Akzeptanz für den ÖPNV schaffen? Ich glaube, dass elektrische und autonome Fahrzeuge, die auf Nachfrage unterwegs sind, viel Potenzial bieten.
In der Stadt sieht die ÖPNV-Nutzung wieder ganz anders aus. Hier, glaube ich, macht es für Verkehrsunternehmen Sinn, mit Leihrad-Anbietern zu kooperieren und diese in ihr Mobilitätsangebot aufzunehmen. Denn das Rad steht für ein gesundes Leben – und hat während der Pandemie als Verkehrsmittel einen Aufschwung erfahren.
Glauben Sie, dass der öffentliche Nahverkehr wieder an alte Fahrgastzahlen anschließen kann?
Ich denke, wenn Corona vorbei ist, kommen auch die meisten Fahrgäste wieder zurück. Es wird noch einige Zeit dauern, bis die Pandemie verschwunden ist – auch aus der öffentlichen Wahrnehmung. Das ist jetzt noch nicht absehbar.
Aber: Angesichts der bevorstehenden Bundestagswahl ist Klimawandel ein großes Thema – und die Mobilitätswende ist ein wichtiger Baustein zur Bekämpfung des Klimawandels. Um die Mobilitätswende erreichen zu können, ist der ÖPNV ein großer Hoffnungsträger. Diese Gesamtrahmenbedingungen sind grundsätzlich erstmal positiv. Deshalb glaube ich, dass der öffentliche Verkehr wieder an seine alten Erfolge anknüpfen kann und vielleicht sogar noch stärker wird.